Wie Eltern sich fühlen, wenn ihre Kinder den Kontakt abbrechen
Von Anja Weiffen
Verlassene Eltern – von ihnen gibt es mehr als gedacht. Selbsthilfegruppen wie die im Zentrum für Trauernde in Hanau holen das Thema aus der Tabuzone. In den Gesprächen drücken die Betroffenen ihre Wut, Trauer und Ohnmacht aus.
Nicht im Traum hat Sabine M. (68) daran gedacht, dass ihr einmal so etwas passieren würde. Gut kann sie sich noch an den Tag erinnern. „Es war ausgerechnet an meinem 66. Geburtstag. Ich besuchte meinen Sohn, der im Ausland lebt, und freute mich darauf, ein paar Tage mit ihm zu verbringen“, erzählt sie. Doch es kam anders, als sie es sich vorgestellt hatte.
Ihr Sohn, damals 42, beschimpfte sie und kündigte einen Bruch mit ihr an, berichtet Sabine M. „Als meine Tochter mich nach der Reise vom Bahnhof abholte und mich fragte, was los sei, sagte ich: Ich glaub’, ich bin zu Stein geworden.“ Einen triftigen Grund für den Kontaktabbruch erfährt die Frau nicht. Heute ahnt sie, dass sich der Bruch schon vorher ankündigte. „Doch ich hab’ es nicht wahrhaben wollen.“ Im Hanauer Zentrum für Trauernde trifft Sabine M. regelmäßig Leidensgenossen. Das Ehepaar B. hat eine Achterbahnfahrt der Gefühle mit seinem heute 46-jährigen Sohn hinter sich.
Identitätssuche kann ein Auslöser sein
„Er war immer wieder eine Zeit lang verschollen, zuletzt haben wir vor zwei Jahren etwas von ihm gehört“, sagt Ursula B. Auch in ihrem Fall gab es einen markanten Tag: „Er verfasste an meinem 65. Geburtstag einen Brief mit der Trennungsankündigung. Er wollte auch, dass sich seine zwei Geschwister daran beteiligen.“
So verschieden die Geschichten vieler betroffener Eltern sind, im Fall der Hanauer Familien zeigt sich, dass es jeweils um eine Identitätssuche der Söhne geht. Reichlich spät, findet Ursula B.: „Eine gewisse Rebellion ist immer da. Aber irgendwann muss doch mal der Verstand einsetzen.“ Die 67-Jährige ist nicht nur traurig, sondern auch wütend. „Eltern sind keine Einbahnstraße. Kinder können mit Eltern nicht machen, was sie wollen.“ Was haben wir falsch gemacht?, fragen sich die Eltern und kommen zu dem Schluss: Sie haben ihre Aufgabe, den Kindern den Start ins Leben zu ermöglichen, nach bestem Wissen und Gewissen erfüllt.
„Hier geht es um den Generationenvertrag“
Pfarrer Werner Gutheil, der das Zentrum für Trauernde leitet, weitet den Blick für ein gesellschaftliches Phänomen. Auf die Frage, wie solche Verhaltensweisen mit dem vierten Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren“ zusammenpassen, stellt er eine Gegenfrage. Was war mit diesem Gebot zu biblischen Zeiten gemeint? „Hier geht es um den Generationenvertrag – die junge Generation kümmert sich um die alte“, betont Gutheil. Dieses Geben und Nehmen sei heute vor allem durch die Rente, durch Geldleistungen geregelt. Die Beziehungsleistungen lösten sich zunehmend auf.
Die junge Generation stehe vor einer anderen Situation als die Nachkriegsgeneration, sind sich Pfarrer und Eltern im Trauerzentrum einig. Und trotzdem: Hier könne man ruhig an die Jüngeren appellieren, nicht alles an den Staat zu delegieren, sagt Gutheil. Er fügt hinzu: „Aber wir haben es auch versäumt, die Erzählungen der Bibel der jüngeren Generation lebensnah zu vermitteln.“
Was er den Eltern anbieten kann, ist Raum – für deren Trauer und Ohnmacht. Letztere drückt sich darin aus, dass Sabine M., Ursula B. und ihr Ehemann die Hoffnung auf die Rückkehr ihrer Söhne aufgegeben haben. „Ich will das gar nicht mehr“, sagt Ursula B. „Ich sage mir einfach, das ist das ganz normale Leben.“ Selbstschutz und Schutz für ihre Ehe, die sonst einem ständigen Hin und Her zwischen Kontakt und Kontaktabbruch ausgesetzt wäre.
Die Betroffenen leiden dennoch. Pfarrer Gutheil will dieser Art der Trauer nachgehen. Dazu interpretiert er eine Szene aus dem Neuen Testament auf seine Art: „Der Zöllner Zachäus stieg auf einen Baum, um von dort aus das Leben zu betrachten. Jesus hat ihn von dort herunter und damit aus seiner Isolation geholt.“ Gutheil möchte diesem Beispiel folgen, indem er den Eltern die Möglichkeit zum Austausch gibt.
Kontakt: Zentrum für Trauernde, Rhönstraße 8, Hanau, Telefon 0 61 81 / 74 01 74