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„Die perfekte Übergangslösung“
12.09.10

„Die perfekte Übergangslösung“

Wie der Alltag im Kolping-Jugendwohnheim aussieht – Im Gespräch mit Bewohnern

 

Ausgabe 37 vom 12. September

Robert Liß und Chaymae Bonziane vor dem Mainzer Kolpinghaus. Die beiden fühlen sich wohl in ihrem neuen Zuhause. Fotos: Daniela Tratschitt

Dem Fußballverein Mainz 05 gehört ein Fenster im Schaukasten des Kolpinghauses. Unter den Bewohnern sind auch Juniorenspieler des Vereins.

Bosiljko Jurkic legt Wert auf die besondere Atmosphäre im Kolpinghaus.

Josefa Reh ist die Vorsitzende der Mainzer Kolpingsfamilie.

Von Daniela Tratschitt

Manche träumen davon, manche haben davor Angst: zu Hause auszuziehen. Doch egal zu welcher Kategorie ein Teenager gehört, es ist ein großer Schritt. Die meisten bewältigen ihn. Hilfe bei der Nestflucht kann aber selbst für den selbstbewusstesten Jugendlichen nützlich sein.

Denn nicht der Umzug, die Auswahl einer Wohnung oder deren Möblierung sind es, die die Probleme schaffen, sondern das Aufsichgestellt-Sein und auch das Alleine- Sein. Plötzlich ist niemand mehr da, mit dem man abends vor dem Fernseher sitzt, der einem beim Essen Gesellschaft leistet oder der bei Problemen gleich eine Tür weiter wohnt.

Eine geniale „Übergangslösung“ ist ein Zimmer in einem von Deutschlands rund 220 Kolpinghäusern – so wie dem in Mainz. Hier haben Robert Liß und Chaymae Bonziane ein neues Zuhause gefunden. Robert ist 22 Jahre alt, kommt aus Hannover und lernt bei Opel in Rüsselsheim KFZ-Mechatroniker. Chaymae ist 19 und besucht die 12. Klasse des Max- Planck-Gymnasiums in Rüsselsheim. Beide repräsentieren die Bandbreite der jungen Menschen, die im Kolpinghaus Mainz eine neue Bleibe gefunden haben.

Lebensbedingungen der Gesellen waren bestürzend

Ursprünglich waren die Kolpinghäuser katholische Gesellenhospize, das heißt, sie boten wandernden Handwerksgesellen eine Grundversorgung an. Der spätere Priester und Sozialreformer Adolph Kolping hatte während seiner Lehrjahre als Schuhmacher viele Gesellen kennengelernt und war bestürzt über deren Lebensbedingungen. Die Abschaffung der Zünfte im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert und das Verschwinden der Meisterfamilien führte zu einem Verlust familiärer und religiöser Werte bei den jungen Gesellen. Aus den von Kolping und anderen katholischen Priestern gegründeten Gesellenvereinen entstand so in mehr als 150 Jahren die Institution, die heute noch Heimat vieler Jugendlicher ist: das Kolpinghaus.

Gar keine Gedanken um ein Zimmer gemacht

Robert ist also genau so ein Kandidat, an den Kolping damals gedacht haben könnte. Um seine Lehre machen zu können, zog der damals 20-Jährige Robert von zu Hause aus. „Ich hatte zwar schon eine Stelle bei VW sicher – mein Vater arbeitet dort –, doch ich wollte zu Opel.“ Als der Ausbildungsvertrag unterschrieben war, musste alles sehr schnell gehen. „Das war eine ganz kurzfristige Angelegenheit. Und um ein Zimmer habe ich mir, ehrlich gesagt, keine Gedanken gemacht“, erklärt der Azubi grinsend. „Auf das Kolpinghaus kam ich dann erst über den Betrieb.“

Lehrlinge sind aber nicht die einzigen Bewohner des Kolpinghauses Mainz. „Es gibt fünf unterschiedliche Gruppen, aus denen unsere Bewohner stammen“, erklärt Bosiljko Jurkic, Leiter des Mainzer Kolpinghauses. „Zuerst sind da die Steinmetze und -bildhauer. Schon seit 1978 kommen die Auszubildenden aus Baden-Württemberg und Rheinland- Pfalz während ihres theoretischen Unterrichts in Mainz bei uns unter“, weiß der von allen Boso genannte Enddreißiger. „Sie verbringen viel Zeit hier, und deshalb versuchen wir auch, ihnen diese drei Jahre so interessant wie möglich zu gestalten. Das heißt am Anfang zum Beispiel Fußballspielen – damit sie sich gegenseitig besser kennenlernen – und zum Schluss etwa eine fachspezifische Führung durch den Mainzer Dom.“

Das „neue“ Kolpinghaus an der Holzstraße wurde übrigens durch die acht Jahre Erfahrung mit den Steinmetzen perfektioniert. „Es war uns wichtig, dass sich hier alle wohlfühlen“, erklärt Josefa Reh, die als Vorsitzende der Kolpingsfamilie Mainz-Zentral auch für das Kolpinghaus zuständig ist.

Die nächste große Gruppe besteht aus Azubis wie Robert Liß. „Die finden uns zwar auch im Internet, aber meist werden sie von ihren Ausbildungsbetrieben auf uns hingewiesen“, erläutert der Sozialpädagoge. „Dann gibt es ein Vorstellungsgespräch und ein dreitägiges Probewohnen. Es soll ja alles passen.“ Viele Bewohner des Kolpinghauses sind also Lehrlinge, denn „das Jugendwohnheim ist ein Lernort“. Darauf besteht der Chef des Hauses.

Ein relativ unbekannter Weg ins Kolpinghaus Mainz führt vom Bruchwegstadion an die Holzstraße. „Hier erhalten sie die für ein Nachwuchsleistungszentrum vorgeschriebene Möglichkeit der betreuten Unterbringung – sprich pädagogische Begleitung sowie persönliche und schulische Förderung“, weiß Jurkic zu berichten. „Viel sehen tut man von den 05ern aber nicht. Die sind ja ständig beim Training“, meint Jurkic, selbst passionierter Fußballspieler. „In unseren kleinen Kraftraum müssen die auf jeden Fall nicht.“

Die beiden anderen Gruppen, die das Kolpinghaus in der Mainzer Altstadt bevölkern, brauchen oft andere Stärkung als Gewichtheben. Einige der Jugendlichen kommen aus dem Antoniusheim für Behinderte in Hochheim oder über das Jugendamt in das Wohnheim. Da braucht es manchmal tatsächlich pädagogisches Fingerspitzengefühl. Aber eines ist für den Hausleiter klar: „Die Leute sind nicht hier, weil sie Defizite haben.“ Im Gegenteil: „Bevor jemand in unsere Gemeinschaft integriert wird, müssen wir überzeugt sein, dass es eine für alle Seiten positive Erfahrung wird.“

Ihr Ziel ist jetzt, ein gutes Abitur zu schaffen

Für Chaymae scheint es genau so zu sein: positiv. Ihre Augen strahlen, ihr Lächeln ist zuckersüß, und mit Robert an ihrer Seite gibt es anscheinend immer etwas zum Scherzen. Die 19-Jährige wohnt erst seit einem Monat an der Holzstraße, an das Zimmer kam sie über das Jugendamt. „Zuhause ist es gerade etwas schwierig, und ich muss mich jetzt darauf konzentrieren, ein gutes Abitur zu schaffen“, erklärt sie selbstbewusst. Danach möchte das Mädchen mit marokkanischen Wurzeln Sozialpädagogik studieren. „Vielleicht finde ich es deswegen hier auch spannend. Weil ich später in so einem Umfeld arbeiten möchte.“ Außerdem gibt es hier wirklich viel zu erleben und viele neue Menschen kennenzulernen.

Die Jugendlichen werden von Beginn an einer Wohngruppe zugewiesen. Das heißt, sie teilen sich ein Jahr lang einen Fernsehraum, einen Gruppenraum und eine Küche. „Wobei ich eine eigene Küche habe“, sagt Robert. Das kommt daher, dass nicht jedes Zimmer gleich ist. „Einer meiner Kumpels hat sogar eine Badewanne.“ Anspruch auf ein Einzelzimmer oder sogar auf einen Platz in der Dependance in der Kappelhofgasse hat man erst nach dem ersten Lehrjahr. „Aber ich finde es im Haupthaus klasse. Ich hab schon in jeder Gruppe gewohnt und kenne mich hier einfach gut aus.“

„Extra wegen mir gibt es einen Tanzkurs“

Natürlich gibt es auch viele Möglichkeiten, mit Jugendlichen aus anderen Wohngemeinschaften – kurz WGs – zusammenzukommen. Beim Essen im Speisesaal, beim Fußball, in der Töpferei oder der Bücherei, in der Hauskapelle oder im Computerzimmer. „Extra wegen mir wurde sogar ein Tanzkurs ins Leben gerufen“, erklärt Robert stolz. Eigentlich muss man fast nicht mehr raus. Sogar eine eigene Kneipe hat das Kolpinghaus. Und wer trotzdem Lust hat, sich außerhalb rumzutreiben, hat dazu in der Mainzer Altstadt jede Möglichkeit.

Nur an einem Tag sollte man sich nicht viel vornehmen: Montags ist Gruppentag – dabei werden Probleme besprochen oder die Woche geplant. Dreh- und Angelpunkt jeder Gruppe ist der Betreuer. Die Pädagogen halten die Gruppen zusammen und stehen den Bewohner mit Rat und Tat zur Seite. „Natürlich braucht es Zeit, sich an den jeweiligen Betreuer zu gewöhnen“, erklärt Hausleiter Boso. „Aber nach einer Weile weiß jeder Bewohner, dass es jemanden gibt, an den er sich immer wenden kann. Egal mit welchem Problem. Das meiste, was wir Pädagogen hier tun, ist Beziehungsarbeit.“

Man muss also gar nicht alleine sein, wenn man von Zuhause auszieht. Manchmal führt der „richtige“ Weg eben in eine WG. In diesem Fall in eine besonders große.

Zur Sache

Fußballjugend

Das Kolpinghaus Mainz hat auch für den Fußball in der Stadt eine große Bedeutung. „Wir beherbergen unter anderem auch Juniorenspieler des 1. FSV Mainz 05“, erklärt Bosiljkon Jurkic. Für den Fußballverein eine segensreiche Verbindung. Seit 2004 werden einige der 15- bis 19-Jährigen aus dem Nachwuchs-Leistungszentrum hier untergebracht.

„Wir hatten damals schon gute Kontakte zum Kolpinghaus und sind von der Qualität der Unterbringung überzeugt“, erinnert sich Thorsten Richter, Pressesprecher der Jugendmannschaften. „Die Rahmenbedingungen sind einfach ideal. Und wir mussten nicht selbst bauen.“

Zurzeit bekommen zwölf Spieler die Chance, Gemeinschaft auf Kolpingart kennenzulernen. Vom Frühstück über die Hausaufgabenbetreuung der U10- und U12- Spieler bis hin zum extraspäten Abendessen. „Wenn die Jungs vom Training kommen, haben sie Hunger – und im Kolpinghaus hat man sich darauf eingestellt“, weiß Richter.

Es gibt sogar einige Fußballspieler, die nicht nur eine Saison an der Holzstraße wohnen bleiben. „Robin Mertinitz war der erste. Er hat seine komplette Ausbildungszeit zum Industriekaufmann im Kolpinghaus gewohnt und spielt heute noch in unserem Verein.“ (el

Nachgefragt

Führend unter den deutschen Jugendwohnheimen

Fragen Bosiljko Jurkic (39), Leiter des Kolpinghauses Mainz:

Frage: Wie sind Sie ins Kolpinghaus Mainz gekommen, und wie wurden Sie zu dessen Leiter?

Jurkic: 1997 wurde ich als pädagogischer Mitarbeiter eingestellt, 2003 ergab sich die Chance, sich auf die Leitungsposition zu bewerben.

Was ist das Besondere am Kolpinghaus?

Die Atmosphäre und das vergleichsweise hohe Niveau. Unter den deutschen Jugendwohnheimen sind wir in der „führenden Gruppe“.

Welche Schwierigkeiten erwarten einen Sozialpädagogen hier?

Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind ausgesuchte Multitalente. Sie besitzen große persönliche Fähigkeiten, haben aber auch das nötige Wissen. Dies verhindert zumeist größere und langfristige Schwierigkeiten. Was macht Ihnen am meisten Spaß?

Zu sehen, wie sich junge Menschen positiv entwickeln.

Haben Sie auch nach dem Auszug der Bewohner noch Kontakt mit ihnen?

Das gehört zum Wesen unseres Hauses dazu.

Interview: Daniela Tratschitt

Stichwort

Kolpingsfamilie

2001 feierte die Kolpingsfamilie Mainz-Zentral ihren 150. Geburtstag. Seit 1851 erhalten Menschen in dieser Gruppe die Gedanken und Vorstellungen Adolph Kolpings am Leben. Vorsitzende des rund 200 Mitglieder starken Vereins ist die Mainzerin Josefa Reh. Die Gruppe setzt sich aus den verschiedensten Menschen zusammen: Senioren und Jugendliche, Frauen und Familien, Handwerker ebenso wie Akademiker.

Zum Programm gehören Abende der Erwachsenenbildung, Seniorennachmittage, Gesprächskreise für Frauen und junge Familien, Kinder- und Jugendangebote. Das Problem ist der hohe Altersdurchschnitt, verbunden mit der Schwierigkeit, an junge Leute heranzukommen. Gab es vor 20 Jahren noch mehrere Jugendgruppen, so merken de Kolpinger jetzt, dass die Zeiten und Interessen sich gewandelt haben. Heute konzentriert sich die Jugendgruppe auf ihre Tätigkeit in der Fastnachtszeit als Showballett „KoJu-Girls“, das im nächsten Jahr sein 33-jähriges Bestehen feiert. Und dieses Pflänzchen soll weiter ausgebaut werden. „Ich möchte die Jugendarbeit wieder aufbauen und erweitern“, erläutert Reh selbstbewusst. (ela)

Chronik

150 Jahre

  • 16. November 1851: Gründung des katholischen Gesellenvereins
  • 1852: Erste Versammlungsstätte im Haus Nillius, Gymnasiumstraße
  • 1861: Ein Gönner kauft das erste Haus für den Verein in der Goldenluftgasse
  • 25. Oktober 1862: Einweihung des ersten eigenen Gesellenhauses in der Spritzengasse
  • 1873: Erwerb eines Gesellengrabs auf dem Mainzer Hauptfriedhof
  • 1897 bis 1904 : Erweiterung des Gesellenhauses
  • 1899: Eröffnung der Volksküche in der Großen Langgasse
  • 1910: Elektrisches Licht und Dampfheizung fürs Gesellenhaus.
  • Erster Weltkrieg: Das Gesellenhaus wird Lazarett, Massenquartier und Soldatenheim
  • 22. Juni 1930: Umzug in das neue Gesellenhaus in der Bembé’schen Möbelfabrik im Hof Große Bleiche 26
  • 1933: Umbenennung des Gesellenvereins in Kolpingsfamilie
  • 1935: Stillstand des Vereinslebens
  • 1938/39: Verkauf des Hauses an der Großen Bleiche
  • 1946: Neustart im heutigen Willigis-Gymnasium und Renovierung der Antoniuskirche
  • Oktober 1951: Einweihung des neuen Hauses in der Rosengasse
  • 1961: Errichtung des Lehrlingshauses in der Rosengasse und Umbenennung der Straße in Adolph-Kolping-Straße
  • 19. April 1985: Einweihung des jetzigen Kolpinghauses in der Holzstraße 19

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