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Eine Welt bricht ein
12.12.10

Eine Welt bricht ein

Wenn Kinder sterben, ehe sie geboren sind – Abschiedskultur an der Universitätsmedizin Mainz

 

Ausgabe 50 vom 12. Dezember

Für eine würdevolle Verabschiedung kann das tote Kind in ein „Abschiedskörbchen“ gebettet werden, das auf der Station und im Kreißsaal zur Verfügung steht.

Fotos: Universitätsmedizin Mainz

Von Maria Weißenberger

Was sage ich, wenn ich ins Zimmer komme? Ich kann doch nicht einfach „Guten Tag“ sagen. Es ist kein guter Tag heute. Nicht für die Frau, der ich gleich begegnen werde. Gedanken, die Heike Knögel bewegen, während sie sich auf den Weg in die Frauenklinik der Mainzer Universitätsmedizin macht.

Die Seelsorgerin weiß: Die Frau, die sie besucht, hat ihr Kind verloren. Tot, noch ehe es geboren wurde. Gestorben im Mutterleib. Monatelang war die Schwangerschaft unauffällig verlaufen. „Gestern habe ich mein Kind noch gespürt“, sagt die Frau. Plötzlich, von einem auf den anderen Tag, war „etwas anders“. Mit dem Kind im Mutterleib schien „etwas nicht zu stimmen“. Die Eltern sind in die Frauenklinik gefahren, haben auf medizinische Hilfe gehofft. Und nach eingehenden Untersuchungen erfahren: Ihr Kind ist tot.

Gebären, um Hinterbliebene zu werden

Die Wehen werden eingeleitet; die Frau muss ihr Kind zur Welt bringen. Weiß, sie wird gebären, um eine Hinterbliebene zu sein. „Mütter und Väter, die ihr Kind durch eine Totgeburt verlieren, stürzen in ein Chaos von Gefühlen“, weiß Heike Knögel. „Eine Welt bricht ein.“ Unbegreiflich, was geschehen ist. Nicht zu verstehen, warum. Warum ich? Warum unser Kind? Entsetzen, das sich in Schreien Bahn bricht. Oder verstummen lässt. Lähmt. Nur noch die Decke über den Kopf ziehen, nichts hören und sehen. Immer noch hoffen: „Alles war nur ein schlechter Traum.“

Kein „guten Tag“. Oft spricht Heike Knögel die Frau einfach mit ihrem Namen an, stellt sich vor, bietet Begleitung an. Es gibt kein „Patentrezept“ für diese Situationen. Keine einfachen Antworten. „Da kann ich nicht mal eben mit der Botschaft von der Auferstehung kommen, und alles ist gut“, weiß die Pastoralreferentin. Auch nach jahrelanger Erfahrung kann sie nicht von sich behaupten: „Ich weiß, wie es geht.“

Offen begegnet sie den Müttern, den Vätern, Angehörigen der Familie: Das Wichtigste, das sie mitbringt, ist ihre Bereitschaft, „mich in Beziehung zu den Menschen zu stellen“, sagt sie. Wach zu sein für das Erleben der Einzelnen, ein Gespür für ihre Gefühle zu entwickeln, das sei von ihr gefordert. Jede Geschichte ist anders, „und jede Geschichte rührt auch mich an“. Ohnmacht, Trauer, Schmerz bringen die Frauen zum Ausdruck. Gefühle, die nicht mit ein paar tröstenden Worten wegzuwischen sind. „Ich suche zusammen mit den Frauen, mit den Familien nach Worten“, sagt Heike Knögel.

Nicht alle Eltern sind sicher, dass sie ihr totes Kind sehen möchten. „Hin- und hergerissen“ erlebt die Seelsorgerin manche Frau, zwischen „Lasst mich in Ruhe“ und „Bringt mir mein Kind“. Die Mediziner, Psychologen und Seelsorger wissen, dass solche ambivalenten Gefühle nicht selten sind. „Das Kind bleibt zunächst auf der Station“, erklärt Heike Knögel. „So ist es Eltern und Angehörigen jederzeit möglich, es zu sehen, das tote Kind zu ,begreifen‘, sich von ihm zu verabschieden.“ Und – auch das sei wichtig angesichts von häufig kursierenden „Horrorgeschichten“ – sich zu vergewissern: Unser Kind ist kein Monster. Es werden Fotos gemacht von den Kindern, erklärt die Seelsorgerin. Denn: „Manchmal fragen sich Eltern noch zehn Jahre später: Wie hat es wohl ausgesehen?“

Gemeinsam zum Wohl der betroffenen Menschen

Gemeinsam mit Ärzten und einer Psychologin, Hebammen, Pflegekräften und einer Trauerbegleiterin haben sich die Seelsorgerinnen beider christlicher Konfessionen und Sozialberaterin Adele Kammerschmitt vom Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) den interdisziplinären Arbeitskreis „Abschiedskultur bei frühem Tod“ gegründet. Intensiv befassten sie sich mit der Frage, wie sie zum Wohl der betroffenen Menschen handeln können. Dabei ist unter anderem die Informationsmappe „Abschied nehmen“ entstanden, die Frauen und ihre Angehörigen erhalten, wenn sie ein Kind durch eine Fehl- oder Totgeburt verloren haben. „Für eine würdevolle Verabschiedung können die toten Kinder liebevoll in ein Körbchen gebettet werden, das auf den Stationen und im Kreißsaal zur Verfügung steht“, erläutert Heike Knögel.

Auch Fragen und Klagen haben ihren Platz

Wenn es gewünscht wird, gestaltet sie – auch mit Eltern und Angehörigen gemeinsam – ein Aussegnungsritual. Und macht die Erfahrung, dass der Segen für das verstorbene Kind auch die Angehörigen „befriedet“. Die zuvor geführten Gespräche helfen ihr zu entscheiden, welche Texte sie verwendet, welche Symbole sie mitbringt, welche Fragen oder Hoffnungsbilder – oder auch Klagen – sie anspricht. „Manchmal richten Mütter oder Väter, Omas und Opas das Zimmer liebevoll für diese Abschiedsfeier her oder tragen mit eigenen Texten dazu bei“, sagt sie. Und betont, dass sie als Klinikseelsorgerin nicht allein für Patienten da ist, sondern auch für Angehörige und das Personal.

Das Gespräch sucht die Seelsorgerin auch mit den Vätern der toten Kinder: „Auch Männer können nicht immer stark sein – müssen sie auch nicht“, betont sie. Doch nicht allen Vätern begegnet sie: Manche sind beruflich unabkömmlich, andere versorgen zu Hause weitere Kinder. Und mancher Mann trauert „anders“: „Viele meiden die Nähe des Verlusts, wollen mit Abschiedsritualen ,in Ruhe gelassen‘ werden, es mit sich selbst ausmachen“, sagt Heike Knögel. Dann sei es wichtig, den Mann nicht unter Druck zu setzen, ihm seine Art des Trauerns zuzugestehen – und der Frau zu vermitteln, dass seine Haltung nicht gegen sie gerichtet ist.

Es strengt an, Menschen in solch schwierigen Situationen zu begleiten, das verhehlt Heike Knögel nicht. Da gilt es auch für sich zu sorgen, ein gesundes Maß von Nähe und Distanz auszuloten, „Ich und Du auseinander“ und den Kopf freizukriegen, wie sie sagt. Supervision ist von Zeit zu Zeit angesagt. Das interdisziplinäre Netzwerk hilft auch den Begleitern: „Das kollegiale Gespräch trägt zur Psychohygiene bei“, stellt die Seelsorgerin fest.

Sie fühlt sich getragen in den menschlichen Begegnungen – und in ihrem Glauben an Gott. Zu ihm spricht sie denn auch ab und an, wenn sie nach einem langen Arbeitstag die Klinik verlässt, ihr ganz persönliches „Entlastungsgebet“: „So, Herr, jetzt bist du dran. Ich komme morgen wieder.“

Stichwort

Zusammenarbeit

Der interdisziplinäre Arbeitskreis „Abschiedskultur bei frühem Tod“ hat das Ziel, die Kommunikation untereinander zu verbessern, den gleichen Informationsstand für alle zu erreichen und ein differenziertes Behandlungs-, Beratungs- und Begleitungsangebot bereitzustellen. Im Austausch miteinander können die Begleiter passende Zugänge zu den Betroffenen und kürzere Handlungswege entwickeln. Und: Die extreme Belastung verteilt sich auf mehrere Schultern.

Zur Sache

Ratgeber „Abschied nehmen“

Der Ratgeber „Abschied nehmen“ informiert Eltern und Angehörige darüber,

  • wie das Kind würdevoll verabschiedet werden kann (Abschiedskörbchen, Aussegnungsritual)
  • was mit dem Kind geschieht, wenn es in das Institut für Pathologie überführt wird – und dass sie es auch dann noch besuchen können (ein heller, ansprechender Verabschiedungsraum ist vorhanden)
  • welche Dienste der Klinik für welchen Handlungsschritt zur Verfügung stehen
  • welche Bestattungsorte es in Mainz und Umgebung gibt (beispielsweise den „Sternengarten“ auf dem Mainzer Hauptfriedhof, wo zweimal im Jahr Bestattungsfeiern und Gedenkgottesdienste stattfinden)
  • wo sie über den Klinikaufenthalt hinaus Beratung und Begleitung finden
  • wo sie in der Literatur und im Internet weitere Informationen finden

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