Die Kirchenzeitungen für die Bistümer Fulda, Limburg und Mainz
 Startseite -  Verlag -  Stellenangebote -  Inhalt -  Impressum -  Kontakt 
Keiner braucht sich zu schämen
01.05.11

Keiner braucht sich zu schämen

In der „Mittwochsgemeinde“ treffen sich Menschen mit Suchtproblemen

 

Ausgabe 18 vom 1. Mai 2011

Dr. Wolfgang Reuter

Von Christoph Kirchhoff

„Ein wöchentlicher Lebensaustausch mit Hang zur Spiritualität“: So beschreibt Pastoralreferent Stephan Wach die Gruppe von bis zu 60 Menschen mit Suchtproblemen, die sich in der Kapelle der Vitos-Kliniken in Gießen versammeln. Wach stellt den Raum zur Verfügung und begleitet die Treffen.

Die Mitte des Stuhlkreises ist mit Kerzen und Blumen gestaltet, auch auf dem Altar brennen Kerzen. „Gemeinde im Kleinen“, sagt Wach. „Wir feiern Gottesdienst, deuten unsere Lebenserfahrungen im Licht des Glaubens und sind füreinander da.“

Theodor ist neu in der Gruppe. Er macht gerade seine erste Entgiftung und ist sich noch nicht im Klaren, ob er wirklich ein „Problem“ hat. Angela ist rückfällig geworden. „Da gibt es nichts zu erzählen“, sagt sie traurig und berichtet, wie es passiert ist. Dieter „bastelt“ schon seit drei Jahren daran, „clean“ zu werden. „Ich brauche dringendst eine Beschäftigung.“ Auch Sabine weiß nicht, wie sie ihren Tag rumkriegen soll. „Ich habe keine Ideen. Ich weiß nicht, was mir Spaß macht.“

„Tut euch zusammen, wenn ihr Langeweile habt“

„Keiner braucht sich zu schämen, wenn er einen Rückfall hat“, sagt Roby, Moderator der Gruppe und selber Ex-Junkie. „Tut euch zusammen, wenn ihr Langeweile habt.“ Und: „Jede Entscheidung, trocken und ,clean‘ zu werden, ist eine gute Entscheidung“, gibt er „seinen Leuten“ mit auf den Weg. „Wenn ich diese Gruppe nicht hätte, wäre ich längst nicht mehr“, sagt einer leise. Die Gruppe freut sich auf den nächsten Mittwoch. Bis dahin fühlen sie sich durch die Gemeinschaft getragen.

„Der Heilungsbegriff ist in der Psychiatrie ein anderer als bei körperlichen Krankheiten“, erklärt Stephan Wach. Der Prozess der Genesung dauere für viele ein Leben lang, manche blieben dauerhaft in Behandlung. Dabei stelle sich die existentielle Herausforderung, mit der Erkrankung in seinem Leben fertig zu werden. Manche wesentliche Frage wie „Was mache ich beruflich?“ oder „Wie komme ich zu einer Partnerschaft?“ seien für viele nicht mehr von Bedeutung sagt der Klinikseelsorger. Fragen nach dem Lebenssinn stünden im Vordergrund, die die Suche nach Spiritualität aufflammen ließen. „Durch die Krankheit ist für mich der Glaube wieder aktuell geworden“, sagt ein anderer.

Den Sprung in die tiefen Abgründe der Seele wagen

„Es braucht seine Zeit, bis das nötige Vertrauen gewachsen ist, in Einzelgesprächen mit dem Seelsorger die je eigene Betroffenheit aussprechen zu können“, weiß Stefan Wach. Den Sprung in die tiefen Abgründe der Seele könnten viele nur wagen, wenn sie erfahren durften, dass Gott sie trage. Manche sagten, sie seien zum ersten Mal bewusst in einer Kapelle, in der sie sich auch wohlfühlen. Andere kämen durch die Begegnungen mit „Kirche in der Psychiatrie“ wieder zu ihrem Glauben zurück.

„In unseren Gottesdiensten spüren wir die Ernsthaftigkeit und existentielle Dichte aufgrund des Leidens der Menschen, wie sie in den Gottesdiensten und Angeboten von ‚normalen‘ Gemeinden nicht mehr zu finden sind“, sagt Wach. Begriffe wie Vertrauen und Versöhnung, die zum Beispiel in den Liedern von Taizé eine große Rolle spielen, passten sich ideal in den Kontext der Psychiatrie ein. Viele hätten das Vertrauen ins Leben und die Liebe zu sich selber verloren. „Das wieder zu finden, ist eine der schwierigsten Aufgaben.“ Dabei könnten das Beten, das Segnen oder das Vollziehen von Ritualen – etwa das Anzünden einer Kerze in Verbindung mit Fürbitten – viel bewirken.

Nachgefragt

Leidensfähig werden

Fragen an den Psychoanalytiker und Klinikpfarrer Dr. Wolfgang Reuter, Leiter der Seelsorge für Menschen mit Behinderung und psychischer Erkrankung im Raum Düsseldorf/Neuss. Er arbeitet seit 20 Jahren am LVRKlinikum/ Kliniken der Heinrich- Heine-Universität in Düsseldorf als Klinikseelsorger.

Frage: Was ist für Sie das Spezifische an der Seelsorge mit psychisch kranken Menschen?

Reuter: Dass Menschen sich in einer sehr labilen, innerlich verwundeten Lebenssituation mit sehr unterschiedlichen Ansinnen an die Seelsorge wenden. Man kann sagen, bei ihnen hat sich etwas verrückt, das sie selber nicht steuern können. Zum einen kommen sie natürlich, um auf die schnellste Art gesund zu werden, und hoffen auch, dass dabei die Seelsorge mithelfen kann.

Im seelsorglichen Gespräch kommen Fragen nach der Bewältigung der Krankheit und dem Warum auf, existentielle Fragen nach dem Gottesbild: Ist Gott einer, der draufhaut? Einer, der mich in den Dreck stößt? Der an meinem Leiden Freude hat?

Das direkte Ansinnen der Menschen, möglichst schnell gesund zu werden, kann die Seelsorge nicht erfüllen. Aber wir arbeiten oft intensiv an diesen Lebensfragen: Wer bin ich? Warum bin ich krank? Was hat das mit Gott zu tun? Wie kriege ich es weg? Welche Mittel bietet die Kirche?

Welche Antworten geben Sie?

Auf manche dieser Fragen gibt es vielleicht gar keine Antwort. Also: Anstatt Antworten zu geben, biete ich mich an, mit dem Menschen zu suchen. Als Theologe, als Seelsorger, als Christ bin ich überzeugt, dass auch das Leiden zum Leben gehört – eine schwere Aussage und eine Zumutung! Aber: Leidenserfahrung ist die Ursprungserfahrung des Menschen. Und damit ist Seelsorge in der Psychiatrie an einem sehr kritischen Punkt, weil alles in der psychiatrischen Behandlung darauf hinaus läuft und hinauslaufen muss, wie wir das Leiden des Menschen wegkriegen, damit er wieder handlungsfähig wird.

Seelsorge setzt häufig an der Stelle an, an der sich herausstellt, dass das Leiden nicht aus der Welt zu schaffen ist. Von daher hat Seelsorge auch eine prophetische Dimension, die uns mit dem Leiden als wirklich harter Gegebenheit konfrontiert. Dabei geht es nicht darum, dass jeder sich mit seinem Leiden abfindet. Neben allem Bemühen darum, dass es Menschen besser geht, richtet Seelsorge sich gegen den Gesundheits- und Ganzheitswahn. Sie ermutigt, mit Leiden umgehen zu lernen.

Was kann die Seelsorge mit psychisch kranken Menschen leisten, auch über die Medizin und Psychologie hinaus?

Seelsorge ist ja etwas anderes als Psychotherapie oder ärztliche Therapie. Sie kann nichts bewirken, was messbar ist. Ihr „Instrument“ – wenn man so sagen will – oder ihre heilsame Methode ist die verlässliche Beziehung. Darin kann Seelsorge stellvertretend eine Hoffnung vermitteln, für die ja zuletzt Gott einsteht und die auch in einer tiefen Depression, in einer schweren Schizophrenie, bei einer großen Psychose zur Zuversicht werden kann. Seelsorge vermittelt die Zusage Gottes: „Ich bin da an deiner Seite, egal, was du machst, auch wenn du am Bett fixiert bist oder mit deinen schweren Medikamenten kaum ansprechbar bist.“ Der Seelsorger steht genau für diese Zusage Gottes ein. Indem er sich in die trostlos wirkende Welt des Patienten begibt und sich in seiner Ohnmacht – er kann ja nichts machen – auf die Begegnung mit ihm einlässt, kann beiden etwas von der Nähe Gottes aufgehen.

Eine weitere wesentliche Aufgabe der Seelsorge ist es zu trösten. Das meint nicht das Vertrösten auf ein Jenseits mit der Konsequenz, den Menschen im Diesseits allein zu lassen, wie es in der Geschichte der Kirche oft gewesen ist. Trösten meint von der griechischen Wortbedeutung her unter anderem „hinzutreten“. Es kommt jemand, der sich dem leidenden Menschen an die Seite stellt, um mit ihm die Situation seines Lebens zu durchschreiten, ihm nichts vormacht, und das beim Namen nennt, was beim Namen zu nennen ist, und darin zum Trost wird. Es geht um einen Trost, der trägt und nicht trügt, wie der Tübinger Pastoraltheologe Ottmar Fuchs es ausdrückte.

„Ermutigung zur Leidensfähigkeit“ ist ein Begriff aus Ihrer Konzeption der „Heilsamen Seelsorge“. Wie geht das?

Indem wir gemeinsam das Leiden eines Menschen anschauen und zur Sprache bringen, lassen wir die Fixiertheit auf die Leidbefreiung hinter uns. Der Kranke kann seine Gebrochenheit und die Unvollständigkeit seines Lebens mit-teilen. Das kann sich als sehr ermutigend, tröstend und hoffnungsvoll erweisen. Durch das Miteinander-Sprechen, den „Zauber der Worte“ passiert manchmal ein Wandel, von dem man zu Beginn des Gesprächs nichts ahnte. Das ist ja schon in der Bibel nachzulesen. Dadurch, dass zwei Menschen miteinander sprechen, kann sich ihnen eine neue Dimension erschließen. Die Emmaus-Jünger haben eine solche Erfahrung gemacht. Der leiderfahrene Christus kommt hinzu, wenn sich zwei über ihre Leiderfahrungen austauschen. Nach und nach eröffnet sich ihnen ein neuer, heilsamer Raum.

Seelsorge ist heilsam, gerade wenn sie mit dem Leiden rechnet, dem Leidenden nahe bleibt und sich für Hoffnung und Trost stark macht. Theologisch gesprochen: Seelsorge steht in der eschatologischen Spannung. Sie kennt die Gewissheit, dass das Heil für die Menschen in Jesus Christus als dem Gekreuzigt- Auferstandenen schon begonnen hat und wirkt. Zugleich weiß sie darum, dass dieses Heil in unserem Leben immer auch noch aussteht. Das verdeutlichen die Leidenserfahrungen der Menschen. Diese Spannung von „Schon“ und „Noch-nicht“ der Erlösung nicht zu leugnen, das ist die Aufgabe der Seelsorge.

Interview: Christoph Kirchhoff

Ihr Draht zu uns

Redaktion

Liebfrauenplatz 10
55116 Mainz
Tel. 06131 / 28755-0
Fax 06131 / 28755-22
Mail: info@kirchenzeitung.de

Abonnenten

Tel. 06431 / 9113-24
Fax. 06431 / 9113-37
Mail: vertrieb@kirchenzeitung.de

Anzeigen

Tel. 06431 / 9113-22
Fax. 06431 / 9113-37
Mail: anzeigen@kirchenzeitung.de